Netzer – Einer wie Keiner!
Er sagt über sich, er sei am besten gewesen, wenn „ich nicht in Form war“. Typisch! Mit wehender Mähne marschierte Günter Netzer über den Platz, schlug zentimetergenaue Pässe, zirkelte Freistöße in den Winkel, führte Borussia zu zwei Meisterschaften und – unvergessen – dem DFB-Pokalsieg 1973. Von Weisweiler mal als „langes Arschloch“ bezeichnet, sorgte der Lebemann auch abseits des Platzes immer wieder für Schlagzeilen. Heute wird er 70 Jahre alt. MitGedacht huldigt einer Vereinsikone.
Die Geschichte ist so herrlich, dass man sie tausendmal erzählen könnte. Bei Real Madrid wollte man in den Siebzigern allen möglichen Eskapaden des teuren Starensembles vorbeugen. Man knöpfte den Spielern zu Beginn der Saison den Reisepass ab, sie sollten die Stadt nicht ungehindert verlassen können. Günter Netzer scherte das nicht. Sein bester Kumpel hatte ihn als Begleitung bei der Hochzeit Tina Sinatras angemeldet. Also setzte sich Netzer für ein Wochenende nach Las Vegas ab. „Dieses Wochenende war fantastisch, wir haben sogar Elvis auftreten sehen. Obwohl ich hochkantig rausgeflogen wäre, wenn jemand mich erwischt hätte, musste das einfach sein“, erzählte Netzer später. Montagmorgens reiste der Ex-Borusse dann (mit Mantel und Hut) unerkannt nach Madrid ein. Auf die Nachfrage seines Trainers, er habe geglaubt ihn im Fernsehen erkannt zu haben, entgegnete Netzer flapsig, da müsse er auf einen Doppelgänger reingefallen sein.
Netzer war nicht nur ein genialer Spieler, er war ein Lebemann. Das muss man so sagen. Mit Schuhgröße 47 lebte er nicht nur auf dem Platz auf großem Fuß. Als der 21-Jährige am 14.08.1965 sein erstes Bundesligaspiel für den gerade aufgestiegenen Heimatverein aus Gladbach absolvierte, wussten viele, dass dort ein riesiges Talent durchs Mittelfeld spazierte. Dass aber eine derartige Erfolgsgeschichte daraus werden würde, ahnten nur die wenigsten. In 230 Bundesliga-Spielen für die Borussia erzielte Netzer 82 Treffer, bereitete 71 weitere vor. 1973 der Abschied und der Wechsel zu Real Madrid. Anschließend Zürich (Spieler der Grashoppers) und Hamburg (Manager), ehe Netzer entschied, dass der aktive Fußball ohne ihn auskommen müsse. Seine Begründung: „Das hat mir einfach zu viel Kraft geraubt.“ Im Anschluss wurde er Teilhaber einer Sportrechte-Firma und an der Seite Gerhard Dellings TV-Experte in der ARD. Noch so ein grandioses Kapitel für sich…
In Gladbach zählte der “lange Blonde” zu der Spielergeneration, die Borussia zu dem gemacht hat, was sie heute noch ist – ein schlafender Riese mit riesiger Tradition. Mit Fans in ganz Deutschland, deren Bewunderung meist der Zeit der „Fohlenelf“ der 70er geschuldet ist. Netzer führte das Spiel dieser Mannschaft an. Zwar gehörte er nicht zu den Kämpfern, lief manchmal gar nicht (entschied das Spiel aber trotzdem mit einem Zuckerpass), hatte aber mit Hacki Wimmer einen zuverlässigen Arbeiter an seiner Seite, der diese „lästigen“ Aufgaben für ihn übernahm. Zu Netzers Stärken zählten eher die angesprochenen Pässe „in die Tiefe“, spektakuläre Flugbälle oder Freistöße.
Als Mittelfeldstratege und Kapitän galt Netzer als verlängerter Arm des Trainers. Hennes Weisweiler und er pflegten eine Art Hassliebe. Die beiden dickköpfigen Charaktere stritten zuweilen so heftig, dass es wochenlang keine Kommunikation gab. Der getreue Berti Vogts musste dann den Mittler spielen und in Sechs-Augen-Gesprächen die Botschaft des einen an den anderen übermitteln. Auch Weisweilers ganz eigene Definition von Abseits verlief nicht ganz ohne Seitenhieb auf seinen genialen Spielmacher. Der Meistertrainer erläuterte die Regel Nr. 11 des DFB-Reglements mit den einleuchtenden Worten: „Abseits is‘, wenn dat lange Arschloch zu spät abspielt.“
Netzer war definitiv einer der ersten Pop-Stars der Bundesliga. Ein junger Wilder, der sich mit Vorgesetzten wie Weisweiler anlegte. Der in New York des Nachts mit Vogts eine Feuerleiter herunterkletterte, mit dem festen Vorsatz sich per Taxi über den Broadway fahren zu lassen, um mehr zu sehen als „nur Hotel und Trainingsplatz“. Der sich mit 21 auf einer Südamerikareise Borussias aufgrund plötzlichen Heimwehs von der Mannschaft absetzte und auf abenteuerliche Weise ohne Rückflug-Ticket den Panama-Kanal überquerte. Der nach einem Überholmanöver in der Gladbacher Innenstadt mit seinem gelben Ferrari in eine Bushaltestelle raste und nur knapp dem „Idiotentest“ entging.
Netzer polarisierte. In der Mannschaft soll er zwischenzeitlich so unbeliebt gewesen sein, dass nach Erstellung eines Soziogramms herauskam, mit ihm wolle keiner ein Doppelzimmer teilen. Dennoch steht er für legendäre VFL-Triumphe. Unvergessen seine Selbst-Einwechslung beim 2:1-Pokalerfolg 1973 gegen unsere Freunde aus der Domstadt. Weisweiler hatte auf die Nominierung seines, kurz vor dem Wechsel zu Real, stehenden Regisseurs verzichtet. Der guckte sich die Leistung seiner Kammeraden 90 Minuten lang an, verneinte in der zweiten Hälfte sogar die Frage des Trainers ob er nun eingewechselt werden könne, entschied in der Verlängerung allerdings doch einzugreifen zu wollen. Mit den Worten „Ich spiel‘ dann jetzt“ schlenderte er am verdutzten Trainer vorbei und ersetzte den jungen Christian Kulik. 20 Sekunden später, 94. Minute, Doppelpass Bohnhof-Netzer, Schuss, Tor! Pokalsieg Gladbach. Netzer, der Held!
Ein Held, der sich auch als Geschäftsmann verdiente. Seine Ideen waren neu, seine Wege ungewöhnlich. Er verkaufte Versicherungen, platzierte Bandenwerbungen, gründete das „Fohlenecho“ und betrieb die berüchtigte Disko „Lovers‘ Lane“ in der Gladbacher Altstadt. Um diese Lokalität strickt sich eine weitere amüsante Anekdote der Weisweiler-Netzer-Beziehung. Netzer ging wenige Tage vor der Eröffnung zum Trainer und erklärte: „Ich muss es ihnen wenigstens sagen. Übermorgen eröffne ich dahinten eine Diskothek.“ Die trockene Antwort: „Das ist das Ende.“ Wieder redete Weisweiler einige Tage nicht mit seinem Star, um den neuen Nobelschuppen und dessen Betreiber in der Presse dann mit den Worten „Jetzt ist er völlig verrückt geworden!“ zu kommentieren.
Eigentlich ging es für Günter Netzer immer bergauf. Ein Kapitel in seinem Leben wollte allerdings nicht so richtig zünden: die Nationalmannschaft. Am 29. April 1972, beim ersten deutschen Erfolg in Wembley, absolvierte Netzer sein wohl bestes von nur 37 Länderspielen. Acht Wochen später war Deutschland Europameister und der Gladbacher deutscher Fußballer des Jahres. Dass Netzer 1974 nicht auch Weltmeister wurde lag an einer Person: Wolfgang Overath. „Zwei solche Spielertypen können nicht zugleich auf dem Platz stehen“, erkannte Bundestrainer Helmut Schön – und verbannte Netzer auf die Bank. Bei der WM war er, als erster deutscher Legionär, wegen Fitnessrückstands nur Statist im Kader. Schön gönnte ihm (beim 0:1 gegen die DDR) 21 Minuten, bis heute sagt Netzer: „Man beleidigt mich, wenn man mich als Weltmeister bezeichnet.“
Statist war er bei der Borussia nie, sondern DER Star. Geblieben ist nicht nur der Name unseres Maskottchens, sondern eine Reihe herrlicher Anekdoten, viele Triumphe und eine Ära, die unseren Verein bis heute prägt. Wir sagen „Herzlichen Glückwunsch“ und „Nur das Beste“, Günter Netzer!!
Foto zu diesem Beitrag: ARD-Screenshot