Relegation 2011: Eine Zeitenwende für Borussia.

Zehn Jahre ist es nun her, dass sich Borussia Mönchengladbach in allerletzter Sekunde vor dem Abstieg rettete: sportlich, wie vereinspolitisch. Mit etwas Abstand blicken wir auf die Phase, in der alles, woran wir bis heute glauben, auf dem Spiel stand. Eine emotionale Erinnerung.

Wir Fußball-Fans haben eine absurde, in Teilen sehr ungesunde, Eigenschaft: Selbst dann, wenn es am meisten wehtut, prügeln wir uns dennoch in die Stadien dieses Landes. In den noch so aussichtslosesten Situationen fahren wir Kilometer um Kilometer, nur um 90 Minuten lang mitzufiebern und häufig genug eben auch zu leiden. Kein Weg zu weit, keine Demütigung zu unangebracht. 

Der letzte Strohhalm versinkt langsam im Absitegsstrudel

Im Frühjahr 2011 hatte das Fandasein von Borussia etwas von Selbstgeißelung. Wochenende für Wochenende hagelte es Enttäuschungen. Selbst nach erfolgreichen Partien war beim Blick auf die Tabelle eigentlich klar: Das wird nichts mehr mit dem Klassenerhalt. 

Einer der vielen „absoluten Tiefpunkte“ war am 18. März erreicht. An diesem verregneten Freitagabend haute sich in der 61. Spielminute Torhüter Logan Bailly den Ball auf wahnwitzige Art und Weise in den eigenen Kasten. 0:1 lautete das Endergebnis gegen Kaiserslautern. Ein komplett grauenvolles Fußballspiel ging verloren und selbst Neu-Trainer Lucien Favre schien mit seinem Fußball-Sachverstand an Grenzen zu stoßen. Der vermeintliche „letzte“ Strohhalm drohte endgültig im Abstiegsstrudel zu versinken. 

Das Eigentor von Bailly – einer von vielen “absoluten Tiefpunkten” der Saison 2010/2011.

Sechs Spieltage vor Schluss waren es sechs Punkte bis zum rettenden Ufer, selbst die Relegation war noch fünf Zähler entfernt – und Borussia hatte gar ein Spiel mehr absolviert als die Konkurrenz. Als ich nach Spielende niedergeschlagen einen großen Schluck aus dem Bierglas nahm, war ich mir sicher: „Das war es jetzt endgültig. Da kommen wir nicht mehr raus.“  

Wäre es damals zu Ende gegangen, es wäre irgendwie okay gewesen und jeder hätte sich damit schweren Herzens arrangiert. Man hätte – wie bei den Abstiegen 1999 und 2007 – die Spielzeit gemütlich austrudeln lassen können. Alles wäre eine graue, aber getränkelastige, Party auf der Asche der Saison gewesen. Doch was im April und Mai dann noch folgte, war unvorhersehbar und aufwühlend. Es begann eine emotionale Achterbahn-Fahrt für Borussia. Und das auf allen Ebenen.  

Sportlicher & politischer Überlebenskampf

Was viele nicht mehr präsent haben: Nicht nur sportlich wankte der „Dampfer Borussia“ gewaltig und bekam ordentlich Schlagseite. Während die Mannschaft weiter das Unmögliche versuchte und zwischen Euphorie (5:1 Derbysieg) und derben Tiefschlägen (0:1 in Mainz) taumelte, wurde es auch außerhalb des Platzes zunehmend unruhiger. 

Im Stadion war die Mehrheit gegen die Initiative – aber es gab auch Fürsprecher.

Ein Gremium hatte sich aufgetan, um bei der Mitgliederversammlung Ende Mai 2011 dem Verein einen „neuen Anstrich“ zu verleihen. Hinter den Speerspitzen und den (bis dahin noch) wohlverdienten, ehemaligen Borussen-Ikonen Horst Köppel und Stefan Effenberg bildete sich die „Initiative Borussia“, die auf totalen Konfrontationskurs zur damaligen Vereinsführung ging. Es sollte ein Weg weg vom mitgliedergeführten Verein, hin in Richtung eines als reines Wirtschaftsunternehmen denkender und handelnder Club sein – und damit eine Wende um 180 Grad zum zuvor eingeleiteten Kurs. 

Auch wenn im Stadion damals der überwiegende Teil hinter dem Vorhaben des Gegenparts, der Mitgliederoffensive, stand, schien die Stimmung mit zunehmendem sportlichen Misserfolg unter vereinzelten Anhängern bedrohlich zu kippen. Denn es war nicht so, dass die Initiative ganz ohne Fürsprecher unterwegs war: Plakate wie „15 Jahre die gleiche Scheisse. Null Erfolg – nur Tränen. Trainer & Vorstand raus“ konnte man teilweise im Stadion ebenso lesen, wie eine enorme mediale Präsenz des Vorhabens. Sie setzten alles auf eine Karte und Borussia schien mehr und mehr an einem gefährlichen Scheideweg zu stehen.  

Eine Mustervorlage für den „12. Mann“

Als ich am Mittag des 19. Mai in Richtung Borussia-Park aufbrach, war ich wie Trance. Ich fühlte mich zwischen unbändiger Vorfreude („Heute kann uns keiner Stoppen“) und dem Gedanken daran, dass bei den beiden Partien gegen den VfL Bochum alles, wirklich alles auf dem Spiel stand. Auch die Ereignisse des Wochenendes zuvor hingen mir noch arg in den Knochen. Die Begegnung gegen den HSV war wieder einmal ein Abbild der Saison. Die Emotionen schlugen aus. Irgendwo zwischen endgültiger Rettung und direktem Abstieg war an dem Tag alles wahrhaftig zu spüren gewesen.

Einsatz & Kampf auf und neben des Platzes: Eine Mustervorlage für den “12. Mann”.

Die Auftaktpartie gegen den VfL Bochum selbst war etwas für die Geschichtsbücher. Ein wahrer Überlebenskampf. Viele Borussinnen und Borussen berichteten in den Folgejahren nicht nur vom irren Tor des Igor de Camargo und dem eskalativen Jubel, sondern vor allen Dingen von der unvergleichlichen Unterstützung und Stimmung im Stadion – allen voran in der zweiten Spielhälfte. Wenn für den vielbeschworenen „12. Mann“ eine Mustervorlage hätte geschrieben werden müssen, das Relegations-Hinspiel 2011 wäre spätestens ab der 60. Spielminute ein Ideal dafür gewesen. Play-Off-Stimmung auf beiden Seiten. Jeder Zweikampf, jeder Befreiungsschlag, jeder noch aussichtslose Ball in Richtung gegnerischen Strafraums wurde von mehr als 50.000 Kehlen kommentiert, bewertet oder voller Angst “beschwiegen”. Niemals zuvor war ich über 90 Minuten so konzentriert auf jede, wirklich jede einzelne Aktion. 

Alles auf die Spitze getrieben

Sechs Tage später ging es dann zum Rückspiel an die Castroper Straße. Auch hier waren wir Fans euphorisiert, denn eigentlich „konnte es ja gar nicht mehr schiefgehen“. Während man sich in Bochum vor allem über den Schiedsrichter aus dem Hinspiel echauffierte und in Durchhalteparolen flüchtete, sinnierten wir schon, wo und wie wir denn den Nicht-Abstieg begießen würden. Aber dann kam erstmal Nordtveit. 

Der damals junge Norweger war eine Stütze in der Mannschaft von Lucien Favre. Er hatte neben Rookie ter Stegen, der Innenverteidigung um Dante und Stranzl sowie dem flinken Marco Reus eine “Achse” gebildet – und so wesentlich dazu beigetragen, dass sich Borussia in der Endphase der Saison irgendwie noch stabilisierte. Doch in dieser 24. Minute bugsierte er den Ball unglücklich in die eigenen Maschen. Ausgleich. Wieder alles offen. Wieder waren alle Sorgen da.

Das Ruhrstadion wurde in der Folge zum Irrenhaus und mich umgab abrupt wieder die Realität: „Wenn das hier heute schiefgeht, dann haben wir alles verloren.“ In der Folge merkte man die Anspannung bei jedem Einzelnen in der Kurve und auch bei den Spielern auf dem Platz. Das vielbesungene „Momentum“ war ganz klar bei den „Bochumer Jungens in blau und weiß“. Die Anspannung im Gästeblock war deutlich spürbar. Dann war Halbzeit. Durchschnaufen. 

Zwischen lähmender Emotion und purer Erleichterung 

Unterhält man sich noch heute mit Menschen aus dem Fanprojekt und der organisierten Fanszene, so waren für viele die Wochen vor und nach der Relegation, die schwersten ihres Fanseins. Es stand so wahnsinnig viel auf dem Spiel. Denke ich an die Halbzeitpause in Bochum zurück, verstehe ich in Ansätzen, was sie meinen könnten. Zweimal rannte ich auf die heilige Keramik. Es half nichts. In der Luft lag nicht nur eine Mischung aus Alkohol, Urinstein und Billigseife, sondern auch Angst. Lähmende Angst. Wie kann einem ein Verein nur so viel bedeuten?

Ein so immens wichtiger Erfolg für Verein, Mannschaft und Fans.

Eine knappe Dreiviertelstunde später blickte ich gedankenverloren auf das Spielfeld. Ich fühlte mich müde und erschlagen. Halb abwesend klatschte ich mit den Leuten um mich herum ab. Eigentlich sollte ich glücklich sein, denn nur wenige Minuten zuvor war er da, der ersehnte Schlusspfiff. Marco Reus hatte in der 72. Minute in unnachahmlicher Art eine sehenswerte Kombination vollendet und Borussia so den Ligaverbleib gesichert. Wir hatten es tatsächlich geschafft. Bengalos brannten, der Trainer flog durch die Luft und die Spieler begossen sich mit Bier. Es sah aus wie ein Titelgewinn, doch es fühlte sich noch so unwirklich an, denn die Last der letzten Wochen war noch zu spüren.

Den Kampf der Fans nicht vergessen

Vor wenigen Jahren schrieb ich ein paar Zeilen über die Sehnsucht des Fußballs und dass ich gerne meinem Großvater, der mich einst in den 90ern zum Bökelberg brachte, einmal „meine Borussia“ hätte zeigen wollen. Nun ist der gute Herr leider nicht mehr unter uns, aber der Fußballverein, „sein“ Fußballverein, erstrahlt weiterhin. Unsere Borussia, sie wäre wahrscheinlich eine andere ohne den 25. Mai 2011. Denn wenige Tage später wurde die „Initiative Borussia“ auf der Mitgliederversammlung im Borussia-Park abgeschmettert. Vor allem dank des Klassenerhaltes konnte die Stimmung letztlich vollends zur Mitgliederoffensive drehen.

Einer der Macher hinter dem Erfolg: Lucien Favre.

Es ist nicht auszumalen, was passiert wäre, wenn es in der Relegation schiefgegangen wäre und die Macht in die Hände Effenbergs und seiner Gefolgschaft gelegt worden wäre. Es wären mühevolle sportliche, wie strukturelle Aufbauarbeiten in der zweiten Liga notwendig gewesen. Die Chance wäre groß gewesen, den direkten Wiederaufstieg nicht schaffen zu können – und gewiss hätten wir so schnell keine berauschenden Europapokal-Nächte feiern können. Keine Reisen nach Rom, Zypern oder Barcelona. Keine Spielzeiten ohne echte Abstiegssorgen. 

All das ist ein Verdienst Favres, seines Trainerteams, der damaligen Mannschaftund Max Eberls Mut. Aber vor allem gilt auch der organisierten Fanszene rund um das Fanprojekt bis heute ein großer Dank. Sie haben damals den Verein vor einem Untergangsszenario bewahrt und dafür gesorgt, dass wir so viel Schönes im Nachgang erleben durften. Vielen Dank an die Anhängerschaft, die sich damals aufopferungsvoll um die Zukunft von Borussia als Mitgliederverein eingesetzt hat. Ihr alle seid die wahren Helden der Relegations-Zeit, einer Zeitenwende für unserer Borussia, ohne die so viel nicht möglich gewesen wäre. 

Erfolg prägte Verein auf allen Ebenen

In der vergangenen Woche äußerte sich auch Max Eberl zum “Jubiläum” in der PK am vergangenen Donnerstag. Sichtlich ergriffen machte er auch noch einmal deutlich: “Der Relegations-Erfolg 2011 war ein Restart unseres Vereins, den wir in den letzten 10 Jahren mit wirklich großartigen Erfolgen feiern durften, feiern konnten.” Die Zeit sei damals nicht einfach gewesen, man habe das aber “als Verein in Summe, mit Mannschaften, mit Trainern, mit Verantwortlichen, mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und vor allem unseren Fans geschafft haben.” Dieses Erlebnis habe den Verein auch dahin geprägt, wie er sich zu gewissen Sachen verhalte: “Das eine ist die sportliche Freude und die andere ist aber diese Haltung, die dieser Verein hat zu gewissen Themen. In politischen Themen, in sportlichen Themen, in personellen Themen, wie man miteinander umgeht.” Eine Aussage, die auch mir nochmals die Tränchen in die Augen treibt. Borussia, das wird in diesen Tagen einmal mehr deutlich, ist etwas Besonderes und bedeutet uns allen so viel. Die Relegation und die Erinnerung daran macht dies noch einmal offensichtlich. Das alles sollten wir niemals vergessen!

In der aktuellen Folge unseres Podcasts “MitGeredet.” sprechen wir mit Nils, der damals als Mitglied der Ultraszene und als Vorsänger auf dem Zaun stand, über die bewende Zeit vor zehn Jahren und die Relegationsspiele. Zudem könnt ihr dort Michael Weigand hören, der heute als Sprecher des FPMG Supporters Clubs aktiv ist und damals als Sprecher der “Mitgliederoffensive” half, die “Initiative Borussia” zu verhindern.

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Fotos zu diesem Beitrag: imago/Team 2 (2); imago/Revierfoto; imago/siwe; imago/ims; imago/sven simon 

2 Gedanken zu „Relegation 2011: Eine Zeitenwende für Borussia.

  • 26. Mai 2021 um 5:02
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    Immer diese ollen Kamellen. Nachdem das
    „Wir wissen, woher wir kommen“ -Geschwurbel des Grömaz Eberl schon soooo lange nur noch peinlich ist, kommt ihr auch noch mit dieser Großvater:mutter-Story um die Ecke. Im letzten Fohlenecho wurde doch schon jede Stimme und jedes Foto dazu herausgekramt. Vermutlich hat man eine leise Vorahnung, dass die Rosesaison 20/21 den Abstieg nach dem Aufstieg bedeuten könnte. Durchaus denkbar. Im Übrigen vermisse ich jedesmal, dass neben der Glorifizierung eines Minimalziels ( Gewinn der Relegation gegen einen Zweitligisten) , kritische Erinnerungen fehlen. Frag nach bei Friedhelm Funkel. Der sieht insbesondere das Hinspiel (welches ich im Stadion verfolgen konnte) und die Nachspielzeit immer noch mit anderen Augen. Nicht ganz zu unrecht, wie ich finde. In diesem Sinne: Glück und Erfolg für Holstein Kiel.

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    • 27. Mai 2021 um 18:52
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      Guter Gedanke!

      Mich interessiert auch viel mehr “Wohin wollen wir” als das ewige “Wir wissen, woher wir kommen”.
      10 Jahre einstellig platziert ist zwar schön, kaufen kann man sich dafür leider gar nichts.
      Man hätte vielleicht mal den einzig machbaren Wettbewerb DFB-Pokal ernsthafter verfolgen sollen.
      Da kann man zur Abwechslung auch mal einen Titel gewinnen (siehe SGE 2018).
      Es sieht aktuell ja eher nach dem Ende der “Erfolgs-Story” aus, an die sich einige so klammern.
      Sachliche Kritik ist aber noch immer nicht erwünscht, M. E. muss “sein Baby” ja verteidigen.
      Deshalb: Auf geht’s in die nächste “erfolgreiche” Dekade!

      Antwort

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