Marcell Jansen: “Borussia und Bayern haben eine gemeinsame Basis!”
Die MitGedacht.-Ideenschmiede lief in den letzten Tagen auf Höchsttouren. Fragestellung: Mit wem spricht man, wenn Borussia auf den FC Bayern trifft, der Sport aber nicht im Vordergrund stehen soll. Wir haben uns für Marcell Jansen entschieden. Der heutige HSV-Präsident ist ein echter “Gladbacher Jung” und hat früh den Sprung nach München gewagt. Also haben wir ihn zum Interview getroffen – wie in dieser Zeit üblich per Videokonferenz.
Marcell, einfache Frage zu Beginn: Was schießt dir als erstes durch den Kopf, wenn du an Borussia denkst?
Puh, da gibt’s ne Menge (lacht und überlegt länger). Wenn ich an Borussia denke, denke ich an meine gesamte Jugend im Verein mit vielen Höhen und Tiefen. Aber natürlich verbinde ich mit Borussia auch eine besondere Fankultur und das erste Spiel im Borussia-Park als Profi, nachdem ich in der Jugend schon Vorspiele auf dem Bökelberg bestreiten durfte. Ich erinnere mich an mein erstes Profi-Tor im Borussia Park (Anm. d. Red.: 2005 im Heimspiel gegen den VfL Bochum) und denke natürlich an meine Heimat, Familie und Freunde, die in Gladbach wohnen.
Was fällt dir auf der anderen Seite ein, wenn du an den FC Bayern denkst?
Mein Schritt raus von Zuhause. Von Mönchengladbach nach München – das war für mich eine gefühlte Weltreise. Meine ersten Erfahrungen überhaupt bei einem anderen Verein, die ersten Titel, eine tolle Saison mit über 30 Pflichtspielen und einem überragenden Trainer Ottmar Hitzfeld. Das war eine sehr schöne und lehrreiche Zeit. Aber natürlich sind es insgesamt deutlich weniger Erinnerungen als an Borussia und Mönchengladbach.
Liegen wir richtig in der Annahme, dass Borussia und die Bayern unterschiedlich sind wie Tag und Nacht?
Nein, das würde ich nicht sagen. Denn bei aller Konkurrenz in der Geschichte der Bundesliga sollten wir nicht vergessen, dass sie viel Gemeinsames haben: vor allem die Tradition der Vereine und deren riesige Fankultur. Auch wenn beide unterschiedliche Umfelder und Möglichkeiten haben, ist diese Tradition eine gemeinsame Basis. Ich empfinde solche Klubs mit Fußball- und Fankultur ohnehin als sehr wichtig. Deshalb bin ich auch sehr stolz, für drei Traditionsvereine gespielt zu haben. Da bekommst du als Spieler Gänsehaut und denkst: „Was ist da denn los? Wie viele Fans kommen denn hier zu Heim- und Auswärtsspielen?“ Das ist Wahnsinn. Da ist richtig Leben in der Bude.
Borussia hat eine Vision! Die haben auch die absoluten Spitzenvereine wie Bayern mit „Mia san Mia“. In Gladbach ist das eben die vom Verein oft beschworene „Borussia-Familie“. Das schafft inneren Zusammenhalt, den man nach außen spürt. Das ist wirklich beeindruckend, hat mich immer inspiriert und diese Entwicklung erkenne ich auch in Hamburg.
Marcell Jansen im MitGedacht.-Interview
Wie blickst du 13 Jahre nach deinem Abschied auf die Entwicklung Borussias?
Mich und meine Familie macht es natürlich stolz und froh, dass Borussia heute wieder auf einem Level ist, wo sie Bayern auch mal schlagen können und oben mitspielen. Deshalb blicke ich natürlich sehr positiv auf Borussias Entwicklung. Besonders beeindruckend ist das, weil diese Entwicklung immer mal wieder auf der Kippe stand. Bei den ganzen Unruhen und Auf- und Abstiegen, die Borussia Ende der 90er und im ersten Jahrzehnt der 2000er hatte, brauchen sie eine Grundstabilität. Das haben sie geschafft und sind damit Vorbild für viele Vereine – auch für uns als HSV.
Welche Unruhen meinst du genau?
Infolge der Auf- und Abstiege gab es ja irgendwann fast die Ablösung eines eigentlich funktionierenden Grundgerüstes (Anm. d. Red.: 2011 durch die „Initiative Borussia“). Wäre das nicht abgewendet worden, weiß ich nicht, ob Borussia heute noch dieselbe wäre. Doch der Verein hat damals gemeinsam mit Mitgliedern und Fans die Grundstabilität erhalten. Es war eine Vision vorhanden. Die muss man haben! Das haben auch die absoluten Spitzenvereine wie Bayern mit „Mia san Mia“. In Gladbach ist das eben die vom Verein oft beschworene „Borussia-Familie“. Das schafft inneren Zusammenhalt, den man nach außen spürt. Das ist wirklich beeindruckend, hat mich immer inspiriert und diese Entwicklung erkenne ich auch in Hamburg.
Aber es brauchte auch viel Geduld, bis sich die Vision bezahlbar gemacht hat …
Absolut. Borussia hat die Emotionalität des Fußballgeschäfts ausgehalten. Du verlierst eben drei Spiele und gewinnst dann auch mal drei. Im Falle von Borussia steigst du dann sogar mal ab. Aber der Kern der „Borussia-Familie“ wurde eben nicht zerschlagen. Es gab sicher Punkte, da hätte das passieren können, das war nicht abwegig. Doch obwohl dieser Grat so schmal war, hat sich der Verein an den richtigen Stellen nicht rein von Emotionen leiten lassen. Diese Nachhaltigkeit hat sich bewährt und beeindruckt einen Fußballromantiker wie mich wirklich sehr.
Was bedeutet so ein großer Begriff wie der des „Fußballromantikers“ denn für dich?
Fußballromantik ist für mich, dass alles dem Vereinsemblem untergeordnet wird und dass der Verein größer ist als einzelne Akteure. Das dürfen wir uns nicht kaputt machen lassen. Als Fußballromantiker brauche ich sicher nicht immer neue Turniere, um das Geschäft noch größer zu machen. Aber das aktuelle Geschäft kann ich auch als Fußballromantiker leben, weil ich Profifußball will und richtig guten Fußball sehen möchte.
Müsste ein Fußballromantiker die aktuelle Entwicklung des Fußballs nicht etwas kritischer sehen?
Natürlich kann ich die vielen kritische Stimmen an unserem Business, das leider immer noch häufig aus vielen Eitelkeiten besteht, verstehen. Aus meiner Sicht sind diese Probleme aber lösbar. Indem wir das Rad nicht überdrehen und die Stärken der Fankultur wieder in die Mitte rücken.
Kommen wir mal ein bisschen zu deinem Werdegang bei Borussia und den Bayern. Wie war es damals als waschechter Gladbacher plötzlich in Borussias Profimannschaft aufzutauchen?
Das war ein wahnsinniges Erlebnis. Ich war ja schon als Balljunge und Jugendspieler am Bökelberg. Dann war ich bei unseren Amateuren, wo ich mich im Container umgezogen habe. Dabei habe ich den Bau des Stadions komplett mitbekommen. Dort irgendwann mal als Profi aufzulaufen war das Größte. Ich glaube, das brauche ich gar nicht näher zu beschreiben. Das war Emotion pur.
Hatte es eigentlich nur Vorteile immer der „Gladbacher Jung“ zu sein oder gab es auch Phasen, in denen dich das genervt hat?
Das ist ein interessanter Punkt. Denn tatsächlich konnte ich bevor ich Nationalspieler wurde eigentlich spielen wie ich wollte. Letztlich hieß es in den Medien immer: „Ach, der Marcell. Das ist doch das Fohlen aus der eigenen Jugend!“ Dementsprechend wurde ich dann auch von den Kollegen montags bewertet. Da konnte ich mich nie beschweren (grinst). Das hat sich aber komplett geändert, als ich dann Nationalspieler wurde. Plötzlich stand ich ganz anders im Fokus. Da hatte ich das Gefühl, dass ich viel kritischer bewertet wurde. Vielleicht hat mich das aber auch abgehärtet und hat mir beim Schritt zum Wechsel nach München geholfen.
War der Wechsel zu den Bayern der richtige Schritt?
Ich musste damals abwägen: Gehe ich mit Borussia in die zweite Liga – mit dem klaren Risiko, dass meine Karriere, wenn es mal nicht so läuft, auch ganz schnell vorbei sein kann. Oder versuche ich mich auf dem höchsten Niveau durchzusetzen. Und da habe ich für mich entschieden, dass meine Reise weitergehen muss und ich eine neue Challenge brauche. Übrigens immer in dem Wissen, dass mein Herzensverein Borussia mit dem Transfer für damalige Zeit richtig viel Geld verdient, um eine neue Aufstiegs-Mannschaft aufzubauen. Zum Glück hat das alles geklappt: Ich bin mit Bayern Meister und Pokalsieger geworden und Borussia ist aufgestiegen. Das war eine „Win-Win-Situation“ und hat mich sehr glücklich gemacht. Ich war ja übrigens auch auf der Aufstiegsfeier eingeladen und durfte mit meiner Familie dabei sein. Damit war für mich die Entscheidung emotional und inhaltlich der richtige Schritt.
Es gab auch Fans, die dir den Wechsel vorgeworfen haben …
Ja, definitiv. Das waren wirklich emotionale Gespräche, die mich auch beschäftigt haben. Ich musste mir da echt viel anhören: „Bayern-Schwein“ oder „Bayern-Sau“ waren noch die freundlicheren Ausdrücke. Ich habe das alles angehört, verarbeitet und proaktiv das Gespräch gesucht. Wirklich gestört hat mich aber vor allem, wenn mich Fans beschimpft haben, die dann ihr Oldschool-Patrick-Andersson- oder Stefan-Effenberg-Trikot anhatten. Sorry, aber das ist unfair und populistisch. Letztlich glaube ich, dass ich in meiner Karriere bei drei Traditionsvereinen gespielt habe, die eine unheimliche Wucht haben.
Wenn Du zu Bayern München gehst und nicht zumindest Nationalspieler bist, frage ich mich, was du da willst. Natürlich hat man da ein geiles Training und eine große Herausforderung. Aber in der Regel verlierst du wichtige Jahre. Ein junger Spieler muss auf dem höchstmöglichen Niveau spielen. Und das ist – bei allem Respekt – nicht die Zweite von Bayern München. Das darf nicht der Anspruch eines Spielers sein.
Marcell Jansen im MitGedacht.-Interview
Finden wir auch. Dennoch sehen Fans Wechsel zu den Bayern offensichtlich immer kritisch. Gab es denn auch andere Angebote – etwa die Chance ins Ausland zu gehen?
Ja, die gab es. Ich habe irgendwann mal gelesen, dass sich Bayern, Barcelona und Real Madrid bemüht hätten und muss sagen: Das ist nicht ganz falsch. Allerdings hat sich darum vor allem mein Berater Gerd vom Bruch gekümmert. Er ist für mich auf diesem Feld eine absolute Legende und ein überragender Mensch – und ist damals öfter nach Barcelona geflogen… (grinst)
Und warum hast du dich dann für Bayern entschieden?
Lange war nicht klar, wohin der Weg geht. Ich hätte mir das Ausland schon vorstellen können. Letztlich hat dann aber die absolute Professionalität des FC Bayern den Ausschlag gegeben. In Barcelona war es damals turbulenter. Es war nicht ganz klar, was sie planen und welche Philosophie sie fahren. In München dagegen wollte mich das Trainerteam um Ottmar Hitzfeld unbedingt haben und hat mir eine klare Perspektive aufgezeigt. Die Gespräche waren super seriös, einfach höchstes Niveau. Ich musste da dieser Tage mal wieder dran denken. Denn wenn du erlebst, wie gut und seriös bei den Bayern gearbeitet wird, weißt du einfach, was wir hier in Deutschland und in der Bundesliga haben. Das gilt auch für die Corona-Zeit und die Wiederaufnahme des Spielbetriebs.
Wie war es denn für den jungen Spieler aus der Provinz zum „FC Hollywood“ zu wechseln?
Natürlich ist München für einen Rheinländer schon fast Ausland (lacht). An die andere Lebensart musste ich mich schon erst einmal gewöhnen. Sportlich hat mir aber definitiv geholfen, dass ich Nationalspieler war und viele Mitspieler bereits kannte. Natürlich ist aber der Druck beim FC Bayern ein anderer. Ich muss da immer wieder an eine lustige Anekdote denken: Ihr wisst ja genauso gut wie ich, dass wir damals bei Borussia in Auswärtsspielen nie ganz so gut aussahen (winkt grinsend ab). Ich habe mal zu Jeff Strasser gesagt: „Wenn wir Zuhause spielen, können wir uns abends in der Altstadt blicken lassen. Nach Auswärtsspielen brauchst du dir vorher schon gar nichts vorzunehmen.“
Die klassischen „Auswärtsdeppen“ damals. Selbst ein Punkt war da ja schon ein Erfolg …
Leider war das so. Ich kann mich noch an einen Sieg in Bielefeld erinnern, ansonsten wurde es aber schwer. Aber reden wir nicht weiter drüber. Jedenfalls haben wir kurz nach meinem Wechsel mit den Bayern irgendwann mal in Karlsruhe gespielt und haben mit drei, vier Toren Unterschied gewonnen. Ich war aufgrund besagter Auswärtsdeppen-Vergangenheit völlig aus dem Häuschen, habe mich total gefreut und bin super euphorisch in die Kabine gestürmt. Da saßen aber alle ganz ruhig, haben sich umgezogen und wollten in den Bus. Ich habe die Welt nicht mehr verstanden. Also habe ich mir Lucio gepackt und habe gesagt: „Mensch, Lucio! Geil! Wir haben hier so hoch gewonnen! Das ist doch mega cool!“ Der hat mich aber nur angeguckt und hat gesagt: „Ja, und?“ Und das ist Bayern München! Es ist einfach ein ganz anderer Druck, eine ganz andere Erwartungshaltung. Es ist vollkommen normal, solche Spiele hoch zu gewinnen – oder sogar gewinnen zu müssen.
Was hast du mitgenommen aus deiner Zeit in München?
Auch wenn ich nur etwas mehr als ein Jahr da war, habe ich dort eine Menge gelernt –nicht nur auf dem Platz. Ich habe bis heute gute Kontakte in die Geschäftsstelle der Bayern und will diese Zeit wirklich nicht missen. Auch wenn einige Experten nachher gesagt haben „Der hat es da nicht geschafft und ist geflüchtet“, bin ich sehr stolz auf die Saison. Ich habe über 30 Pflichtspiele für einen der größten Vereine der Welt bestritten, drei Titel geholt und mit fantastischen Spielern zusammengearbeitet.
Bist du denn geflüchtet?
Klares Nein. Unter Ottmar Hitzefeld war ich Stammspieler. Als Jürgen Klinsmann kam wurde es anders. Der HSV hat mir eine neue Perspektive aufgezeigt und hat sich unfassbar um mich bemüht. Also habe ich mich diesem grandiosen Traditionsverein angeschlossen. Im Nachhinein eine super Entscheidung, die mein Leben bis heute prägt. Hamburg ist seit über 12 Jahren mein Zuhause. Das hängt auch mit den Fans zusammen, die unglaublich sind.
Es gibt ja viele Beispiele von Spielern, die sehr früh zu den Bayern wechseln. Du hast es selbst erlebt: Kannst du beispielsweise den Wechsel von Mika Cuisance nach München verstehen?
Ehrlich gesagt: nicht ganz! Das gilt übrigens auch für Fiete Arp aus HSV-Sicht. Ich sehe das so: Wenn Du zu Bayern München gehst und nicht zumindest Nationalspieler bist, sollten sich junge Spieler die Frage stellen, was sie dort erreichen wollen. Natürlich hat man dort ein Top-Training und tolle Mitspieler, aber in der Regel verlierst du wichtige Jahre. Ein junger Spieler muss aus meiner Sicht auf dem höchstmöglichen Niveau spielen. Das heißt mal zumindest, immer zum 18er Kader zu gehören. Es sollte nicht bloß der Anspruch sein mitzulaufen. Das Modell wie bei Philipp Lahm oder Toni Kroos, also eine längere Leihe, ist dann vielleicht das bessere Modell. Da ist Gladbach ja auch sensationell unterwegs mit Spielern wie Neuhaus, Benes oder aktuell auch Beyer hier in Hamburg.
Schauen wir zum Abschluss nochmal auf deine komplette Karriere. Bist du glücklich und zufrieden mit deinem Werdegang und allen Stationen?
Das kann ich zu 100 Prozent unterschreiben! Sonst wäre es vielleicht auch ein bisschen gewagt gewesen, mit 29 Jahren nicht nach China und in die Türkei zu gehen, sondern bewusst aufzuhören und in den Amateurfußball zu gehen. Drei Traditionsvereine, zwei Weltmeisterschaften, eine Europameisterschaft, dazu auch ein paar Titel: Ich schaue wirklich mit zwei lachenden Augen und großer Dankbarkeit auf meine Karriere zurück. Ich bin total dankbar für alle sportlichen Erfahrungen, die ich sammeln durfte. Und ich bin meinen Eltern und meinem engen Umfeld dankbar, dass ich menschlich immer „der Marcell“ geblieben bin.
Marcell, wir danken dir von Herzen für deine Zeit und das super interessante Gespräch.
Foto zu diesem Beitrag: Christof Koepsel / Bongarts / Getty Images
So so,
morgen hat unser Verein eines der wichtigsten Spiele in dieser Saison, und ihr zieht es vor ein Interview mit genau dem Ex-Spieler zu bringen, der unserem Verein in der schwersten Stunde den Rücken gekehrt hat. Ihr hättet Marcell ja mal auf folgende Aussage unmittelbar vor seinem Wechsel ansprechen können: “Der Großteil des Clubs ist für mich nur noch ein Berufsverhältnis. Es ist vieles von meiner Liebe verloren gegangen.” Leider verpasst, ihr wolltet wohl die Kaffekränzchen Stimmung nicht vermiesen.
Thema sowas von verfehlt.
Ach Gerry…
‘Geiles’ Interview.
Sollte wohl für ‘nen Job beim Hamburger Abendblatt oder beim HSVlive Magazin reichen.
Warum wechselt Rose so defensiv.Das war der Knackpunkt.
Marcell Jansen – Weltfußballer und Unternehmer!
Hammer, dass der euch einen Stichwortgeber-Termin eingeräumt hat.
Meinen herzlichen Glückwunsch zum Klassenerhalt an Mr. President Marcell Jansen 🙂
Weiter so !