Italien-Experte Tippmann: “Juve wird gehasst!”

Kai, Mitte der 90er galt Italien als Sehnsuchtsland für Fußballfans. Nicht wenige deutsche Anhänger schauten neidisch auf „Bella Italia“, vor allem wegen einer damals noch recht neuen Subkultur – den Ultras. Heute sprechen Experten vom Ende des italienischen Fußballs, während bei uns bunte, laute und beflaggte Kurve zu finden sind. Sind Italiens Fußball und seine Fankultur tot?

Mit dem Begriff „tot“ würde ich zu vielen Leuten Unrecht tun. Daher ganz klar: Die italienische Fankultur ist nicht tot. Leute, die sich an vielen Orten in ganz Italien wirklich bemühen ihre Gruppe, ihre Kurve und manchmal sogar ihren Verein am Leben zu erhalten. Diese Anhänger engagieren sich in sportlichen und sozialen Dingen. Sie machen das mittlerweile seit Jahrzehnten und sind immer noch mit Enthusiasmus dabei. Dennoch sehe ich natürlich ganz klare Unterschiede zwischen den 90ern und heute. Wenn man diesen Vergleich zieht, ist der Begriff „tot“ nicht mehr völlig aus der Luft gegriffen. Sagen wir mal so: Es ist sehr viel kaputt gegangen.

Wie würdest du die fankulturelle Situation in Italien kurz beschreiben?

Sehr schlecht. Die Fankultur ist sicherlich nicht mehr mit dem zu vergleichen was es noch vor zehn oder fünfzehn Jahren gab. Die Gründe dafür sind vielfältig: Es gibt hier eben eine ganz verheerende Wirtschaftskrise in Italien. Über die Hälfte der Jugendlichen unter 25 Jahren sind entweder arbeitslos oder in prekären Beschäftigungsverhältnissen ohne sicheres Einkommen. Die Serie A ist eigentlich in jeder Saison von Manipulations- und Korruptionsskandalen gebeutelt. Die guten Spieler und Talente wandern ab und auch international sind die italienischen Teams – mit Ausnahme Juventus im letzten Jahr – nicht mehr so wettbewerbsfähig wie noch vor zehn Jahren. Und dann kommt eben sicher noch die überbordende Repressionsproblematik hinzu.

Kannst du das genauer erklären?

Seit mehreren Jahren ist die Politik darauf aus die italienischen Ultras aus den Stadien zu entfernen. Italien tickt nicht anders als andere Länder: In schlechten Phasen sucht man sich im Fußball ein einfaches Opfer und schiebt diesem die Schuld zu. Das sind hier eben die Ultras. Man glaubt, wenn die weg sind wird alles besser. Plötzlich gewinnt man dann wieder die Champions-League, es gehen nicht mehr reihenweise Vereine pleite – und auch Bestechung und Korruption haben dann ein Ende. So verkauft man es zumindest der Öffentlichkeit.

Auch in Deutschland gibt es immer mehr Repressionen. Aus Protest gegen Strafen und überzogene Sicherheitskonzepte boykottierte unsere Szene das Derby gegen Köln. Schalke plant nun ähnliches in Dortmund. Auch das Spiel zwischen Osnabrück und Münster fand ohne Gästefans statt. Erachtest du Maßnahmen – wie den Boykott – für sinnvoll?

(Überlegt kurz) Ja, wenn man sie denn konsequent und hart durchführt. Wenn eine gesamte Szene, zumindest aber eine große Gruppe, für einen begrenzten Zeitraum draußen bleibt, ist das schon ein Zeichen. Noch schöner wäre es allerdings – und das sage ich besonders im Vergleich zu Italien – wenn die Fanszenen vereinsübergreifend zusammenarbeiten würden. Das hat Strahlkraft! In Italien gibt es das mittlerweile zwar auch, zum Beispiel bei Lazio im letzten Jahr oder bei der Roma in diesem Jahr, jedoch machen nicht immer alle mit und so wird es nur inkonsequent verfolgt. Das liegt sicher auch daran, dass es die alten Strukturen in den Kurven so nicht mehr gibt.

Inwiefern?

Bei uns gibt es nur wenige Gruppen, die für eine ganze Kurve sprechen, eine „Ansage“ machen oder wenigstens ein Communiqué herausgeben können, das für alle gilt. Es existieren meist viele verschiedene kleine Fraktionen. Das schlägt sich dann natürlich auf die Strahlkraft der Protestaktionen nieder. Hier in Italien sehe ich momentan leider wenige Kurven, die kompakt genug sind einen sichtbaren, nachvollziehbaren und kräftigen Protest hinzulegen.

Das deutsche Maßnahmenpaket, das im Zuge des Sicherheitskonzeptes 2012 beschlossen wurde, weist viele Parallelen zu italienischen Maßnahmen auf. Personalisierte Karten gibt es hier seit Anfang der 2000er, die Tessera del Tifoso seit 2008, Stadionverbote von bis zu fünf Jahren, Infiltration durch verdeckte Ermittler in den Kurven und keinerlei Dialog mit Fans. Das alles wird in Deutschland jetzt bemängelt, hat in Italien aber eine noch längere Tradition.

Du hast kurz die Fans des AS Rom angesprochen. Kannst du das Beispiel kurz ausführen?

Der AS Rom und dessen Fanszene stehen aktuell sehr im Kreuzfeuer. Es gibt dort einen neuen Besitzer – einen Amerikaner, der mit der italienischen Form der Fankultur überhaupt nichts anfangen kann. Er hat die Fans im letzten Jahr sogar mal explizit als „blöde Idioten“ beschimpft. Ihm schwebt eher ein Fanmodell vor, wie wir es aus dem nordamerikanischen Sport kennen. Dort kommen Menschen ins Stadion, wollen ihre Freizeit genießen, etwas essen und sich nebenbei das Spiel anschauen. Dazu setzen sie sich möglicherweise mal einen lustigen Hut auf oder nutzen bereitgestellte Klatschpappen um ein wenig für Akustik zu sorgen. Alles was über dieses Fanmodell hinausgeht interessiert diesen neuen Besitzer nicht.

Und was soll mit der “alten” Fanszene passieren?

Die würde er am liebsten komplett aus dem Stadion heraus bekommen. Das wiederum trifft bei der Stadt und Roms Bürgermeister auf Gegenliebe. Da wird ohnehin viel getan um die Kurve unter Druck zu setzen und den Fans die Lust am Support zu nehmen. So ist der Heim-Sektor seit dieser Saison in Sektoren unterteilt. Die Bereiche, die seit Jahrzehnten das Herz des Supports der Roma-Kurve bilden, werden geteilt. So können sich die Leute nicht mehr frei dahin stellen wo sie wollen wie bisher und sind teilweise von ihren Freunden getrennt. Zwar versucht die Fanszene, sich gegen diese Maßnahmen zu wehren. Allerdings ist die Kurve eine der undurchsichtigsten und zersplittertsten des Landes, wie eben beschrieben. Im Moment verweigert sie aber geschlossen den Support.

Mit Blick auf Deutschland: Personalisierte Tickets, reduzierte Kartenkontingente und geschlossene Gästeblöcke. Siehst du Parallelen zur Entwicklung der italienischen Fankultur seit der Mitte der 2000er?

Selbstverständlich gibt es da Parallelen. Das deutsche Maßnahmenpaket, das im Zuge des Sicherheitskonzeptes 2012 beschlossen wurde, weist viele Parallelen zu italienischen Maßnahmen auf. Personalisierte Karten gibt es hier seit Anfang der 2000er, die Tessera del Tifoso seit 2008, Stadionverbote von bis zu fünf Jahren, Infiltration durch verdeckte Ermittler in den Kurven und keinerlei Dialog mit Fans. Das alles wird in Deutschland jetzt bemängelt, hat in Italien aber eine noch längere Tradition. Insofern freue ich mich, dass die Kurven in Deutschland so schnell reagieren. Hier in Italien hat man sich das Ganze viel zu lange protestfrei angeschaut und sich eher gegenseitig bekriegt, anstatt sich zusammen zu schließen und sich gemeinsam zu wehren. So war es für das „System Fußball“ einfach die Fans gegeneinander auszuspielen.

Kommen wir mal ein wenig zu unserem Gastspiel in Turin. Du hast die Dortmunder in Turin Anfang des Jahres begleitet. Wie waren dort die Umstände?

Da muss ich etwas ausholen. In der Woche vor dem Spiel hatten sich holländische Fußballfans in Rom massen- und alkoholbedingt etwas daneben benommen. Da haben sich die Turiner dann eben gedacht, dass sie den Römern mal zeigen müssen wie die Sicherheit zu gewährleisten ist. Und so wurden die Dortmunder am Spieltag recht unfreundlich empfangen. Die hatten am Abend vorher in der Stadt noch völlig friedlich gefeiert- auch gemeinsam mit den Italienern. Am Gästeblock warteten dann Robocop-ähnliche Polizisten, die die Knüppel und Schilder bereits im Anschlag hatten.

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Italien-Experte Kai Tippmann

Klingt nicht wirklich deeskalierend…

Die Kontrollen waren extrem langwierig, unfreundlich und pingelig. Es mussten sich viele bis auf die Unterhose ausziehen und wurden genau abgetastet. Sogar die jüngsten Fans blieben nicht verschont. Eigentlich wurde jedes Taschentuch, jedes Feuerzeug, jeder Fetzen einkassiert. So mussten leider etliche Leute stundenlang anstehen um ins Stadion zu gelangen. Selbstverständlich wurde die Stimmung unruhiger je näher der Anpfiff rückte.

Eine gezielte Provokation der Polizei?

Es wirkte so, denn die Schärfe der Maßnahmen stand in keinem Verhältnis zum Verhalten der Dortmunder vor, während oder nach dem Spiel. Die verhielten sich völlig besonnen und friedlich. Da wollte die Polizei mal etwas die Muskeln spielen lassen. Groteskerweise traut man sich das nur bei Fanszenen, die man moderater einschätzt. Fanszenen die man als gewaltbereiter einschätzt, werden meist zügig in den Block gelassen.

Blüht unserer Szene aus deiner Sicht denn ähnliches?

Ich kann es nicht genau sagen. Ich war natürlich schon häufiger im Turiner Gästeblock. Allerdings meistens mit Milan. Da versucht man die Leute möglichst schnell in den Block zu bekommen, die Kontrollen haben eher Alibi-Charakter. Beim Dortmund-Spiel hatte sicher der bereits erwähnte Vorfall mit den Holländern Einfluss auf die polizeiliche Strategie. Nun werden allerdings dieselben Einsatztruppen vor Ort sein und die sind in Italien grundsätzlicher etwas schärfer drauf als die deutsche Polizei. Daher könnte es sein, dass sie sich ähnlich provokant verhalten. Es geht aber auch anders: Als ich mit den Dortmundern in Neapel war, gab es überhaupt keine Probleme. In Italien hängt das Polizei-Verhalten immer auch ein wenig von der Tagesform des Einsatzleiters ab. In jedem Fall aber sollte man dort sehr gelassen hinfahren. Die Raucher sollten genug Zigaretten dabei haben um auch unangenehme Überraschungen ertragen zu können.

Das hat unsere Fanszene in Spanien nun ja schon bravourös gemacht. Dennoch werden die Karten, wie in Italien üblich, personalisiert sein. Erwartest du tatsächlich so penible Kontrollen mit Ausweisabgleich?

Davon gehe ich absolut aus! Das ist eigentlich, vor allem in Norditalien, absolut üblich. Natürlich kann es sein, dass bei den deutschen Namen, die für Italiener ja nicht immer leicht zu entziffern sind, mal jemand durchgewunken wird. Darauf kann man sich aber eben nicht verlassen. Ausweis und Karte sollte also jeder dabei haben!

Weg von allen Sicherheitsaspekten hin zu den schönen Seiten des Fußballs . den Fans! Was für eine Fanszene erwartet uns in Turin und welche bedeutenden Gruppen gibt es?

Allen voran die Vikings als größte Gruppe. Es gibt dann noch die Fighters und einige Gruppen deren Namen ich gar nicht in den Mund nehmen möchte. Die werden sich sicher präsentieren und beim entsprechenden Spielverlauf auch zu hören sein. Da kommt ihnen aber auch die Akustik des Stadions entgegen. In Turin steht ja bis auf das Stadion von Udinese die einzig neue Arena Italiens. Daher kann man in der Heimkurve mit relativ wenigen Leuten echt Zauber machen. Ihr werdet die Kurve von Juventus also mal hören, zumindest wenn der Spielverlauf es hergibt. Juventus hat aber bei Weitem keine gute italienische Kurve. Sie waren nie ein Highlight in der Kurvenlandschaft Italiens und überzeugen wenn überhaupt nur durch die Masse, die in einer Großstadt dann eben doch zu mobilisieren ist. In der Stadt muss man sich absolut keine Sorgen machen aus eurer Sicht. Die Stadt ist eher in der Hand der Fanszene des FC Torino, die den jeweiligen Gegnern immer freundlich gegenüberstehen. Anders als in Städten wie Rom ist da nicht mit Angriffen zu rechnen.

In Italien ist es leider grundsätzlich so, dass die Jugend eher ins konservative bis rechtsoffene Lager gerückt ist. Das zeichnet sich in den Kurven auch ab. Juventus hat Neonazis und Faschisten in der Kurve stehen. Die Kurve als solches ist jedoch nicht besonders politisiert.

Existieren Juve-Freundschaften zu anderen Szenen oder Feindschaften?

Es besteht so eine halbe Freundschaft zu Sassuolo. Ansonsten will sich aber niemand mit Juventus blicken lassen. Die Fanszene wird eigentlich von allen gehasst. Egal ob Napoli, Bergamo oder Hellas – auf Juventus können sich alle einigen. Die aktuellste Feindschaft besteht sicher zu Inter, das hat sportliche Gründe. Juve wurden in den letzten Jahren zwei Scudettos aberkannt und Inter zugesprochen. Da gibt es also eine sportliche Rivalität. Sicherlich besteht auch eine Feindschaft zum Stadtrivalen, dem FC Torino.

Die Rivalität zu Inter hast du angesprochen. In einem Bericht aus dem Jahr 2009 schreibst Du vom Duell der beiden Klubs und verurteilst unmissverständlich rassistische Schmähungen gegen Balotelli. Erwartet uns in Turin eine rechte Fankurve?

Die Kurve ist nicht rechter als andere Fankurven in Italien auch. In Italien ist es leider grundsätzlich so, dass die Jugend eher ins konservative bis rechtsoffene Lager gerückt ist. Das zeichnet sich in den Kurven auch ab. Juventus hat Neonazis und Faschisten in der Kurve stehen. Die Kurve als solches ist jedoch nicht besonders politisiert. Bei einem Spiel gegen euch würde ich eigentlich keine Schmähungen gegen schwarze Spieler erwarten. Aber leider gibt es diese Gesänge in vielen italienischen Kurven immer wieder.

Spielen Rassismus oder andere Formen der Diskriminierung tatsächlich eine so große Rolle in italienischen Stadien?

Da muss man trennen. Einerseits ist die Hochzeit der offen faschistischen und neonazistischen Symbolik vorbei. In den 90er Jahren sah man in vielen italienischen Kurven – stellvertretend könnte man Hellas oder Lazio nennen – immer wieder Hakenkreuzfahnen, Tattoos und Spruchbänder mit rechten Inhalten. Das ist weitgehend verschwunden, zumindest in den Kurven, die regelmäßig im Fernsehen zu sehen sind. Auf der anderen Seite gibt es aber keine besondere Sensibilisierung zu diskriminierenden oder rassistischen Inhalten. Eine Aussage, die in Deutschland als klar rassistisch durchgehen würde, tut man hier eben als Folklore ab oder akzeptiert es gar als Meinung. Das führt dazu, dass leider auch viel mehr Menschen mitmachen, wenn es beispielsweise Affenrufe gegen Balotelli gibt. Diese Menschen sind in anderen Kontexten meist keineswegs rechts, machen aber eben mit, weil es nicht sanktioniert wird und die Hemmschwelle geringer ist. Oder weil der Spieler eben als „Arschloch“ wahrgenommen wird und man sagt, dass man ihn ja „nur“ beleidigen wolle. Insofern ist die offene Symbolik heute weitgehend verschwunden, der Alltagsrassismus ist jedoch noch wesentlich breiter akzeptiert als in Deutschland. Anders als in Deutschland versuchen die Rechten die Kurven allerdings nicht unbedingt für ihre politische Gesinnung zu vereinnahmen. Die Gesellschaft Italiens hat seit der Entstehung der Ultras in den 1960er Jahren einen Rechtsruck erfahren. Neofaschisten sitzen hier in Parlamenten und ab und an auch in Regierungen. Die brauchen die Kurven nicht mehr. Dennoch gibt es viele Neonazis, die eben auch zum Fußball gehen.

Zum Abschluss. Wer gewinnt das Duell auf den Rängen, wer auf dem Rasen?

Auf den Rängen gewinnt ihr das ohne weiteres Zucken wenn wenigstens die Hälfte ordentlich mitmacht. Ich habe euch letztes Jahr beim Heimspiel gegen die Bayern erlebt. Wenn ihr das auch nur annähernd in den Gästeblock tragen könnt dann ist das kein Match. Wer das Spiel gewinnt? Selbstverständlich ihr! 3:0, mindestens! (lacht)

Kai Tippmann ist Experte für den italienischen Fußball und seine Fankultur. Seit mehreren Jahren schreibt er erfolgreich auf seinem Blog über seine Erfahrungen in den Stadien Italiens. Hier findet ihr mehr

2 Gedanken zu „Italien-Experte Tippmann: “Juve wird gehasst!”

  • 21. Oktober 2015 um 10:30
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    Spitzenmäßiges Interview, sehr eloquent geschrieben und äußerst informativer Abriss.
    Wollte die Seite nicht einfach verlassen ohne dafür meinen DANK auszusprechen!

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  • 23. Oktober 2015 um 21:11
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    Lese Kais Blog sehr gerne, bin daher nicht überrascht, dass das Interview richtig gut geworden ist. Schön auch, dass man diesem Thema den erforderlichen Platz eingeräumt hat. Danke für die Mühe, die ihr euch macht! Daumen hoch!

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